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Essay von Christine Beirnaert |
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4. Baudelaires Modernität
4.1. Am Beispiel des Gedichts " A une passante "
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Hintergrund dieses "tableau" ist die anonyme Großstadt Paris mit ihrer Hetze, ihrem Stress. Aus diesem Rahmen fällt die von Baudelaire beschriebene Passantin förmlich aus der Menge heraus. Die aggressive Akustik und die deprimierende Atmosphäre (Vers 1) steht in auffallendem Kontrast zu der eleganten Erscheinung der Dame und ihrer aus dem bezwungenen Schmerz erwachsenen Würde (Vers 2). Diese Passantin mit der modisch zugeschnittenen Trauerkleidung (Vers 4) stellt zugleich das Transitorische - (Vers 9) "un éclair....puis la nuit"- und damit die eine Hälfte des Schönen im Sinne seiner neuen Theorie dar. Und ihr Bein, das er als das einer Statue beschreibt, verkörpert das Moment der Ewigkeit.
Die Zufallskonstellation, das Unschöne der Großstadt und die flüchtige Schönheit der Frau erlebt das Ich schockiert wie fasziniert (Vers 6), die es dann in einem krampfartigen Anfall abzuwehren sucht. Die ambivalente Natur der Faszination (Vers 7), durch die Imagination verstärkt, hebt die zwiefache Wirkung des Anblicks des Schönen hervor (Vers 8). Mit dem Vers 9 setzt die Reflexion bzw. die Verarbeitung des Schocks ein. Konstatiert wird die Flüchtigkeit dieser schockartigen Begegnung und ihre Auflösung in der gegenwärtigen Rückbesinnung (Vers 10) /26/. Der neunte Vers lautete in einer früheren Fassung noch vermittelnd "souvenir et renaître"; das dann gewählte "soudainement renaître" impliziert, daß die Erinnerung als plötzliche, nicht mehr erwartete Wiedergeburt erscheint. In der phantasierten Erinnerung an die Passantin, deren Blick "douceur qui fascine et (le) plaisir qui tue" besagt, kommt der Wunsch nach einem Wiedersehen auf, das mit der Hervorhebung "jamais" der im Vers 12 angedeuteten Skepsis in die Ausweglosigkeit mündet, jemals den Weg des anderen zu kennen (Vers 13).
Die Verschränkung von Faszination und Ernüchterung bzw. des Augenblicks des Berücktseins und des ewigen Abschiednehmens drücken den Zwiespalt des Dichters aus, der in einer häßlich gewordenen Welt wünscht, das Schöne durch Imagination und Erinnerung dichterisch wiederzugewinnen. Die aus dieser Situation entstandene Spannung fordert den dissonanten Stil im siebten und achten Vers.
26. Vgl. Greiner, Ideal und Ironie, S. 186- 188 4.2. Am Beispiel des Gedichts " La charogne "
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Anlaß zu diesem Gedicht ist also nicht der beschriebene Gegenstand des Kadavers sondern die Verwandlung der betrachteten "charogne" in einen kraft der Imagination schön gewordenen Gegenstand: "Ce monde rendait une étrange musique". Die organische Auflösung verläuft über Vergleiche: "comme une femme lubrique - comme afin de la cuire à point - comme une fleur s'épanouir - etc.". Dabei wird der Bezug zur geliebten Frau deutlich - nicht zuletzt durch die sexuelle Symbolik. Der Vergleich der Frau mit etwas Verwesendem verweist wiederum auf die Vergänglichkeit des Lebens. Solche Vergleiche und Bilder (Wasser, Wind, Musik) bringen den Prozeß der Verwesung bis hin zur Entkörperlichung zum Ausdruck. Der Vers "les formes s'effaçaient [..]" kündigt den vollständigen Zerfall wie den künstlerischen Akt der Verwandlung an: das Leben geht in die Existenzform des Geistigen /31/ über, des Traums und der Erinnerung ("rêve", "souvenir"). Der Teil "l'ébauche lente à venir/ sur la toile oubliée" repräsentiert die Realitätsebene des Fiktiven, in der die geistige Erfahrung der Frau ebenfalls mit dem Prozeß des Zerfalls gleichgesetzt wird. Die Schlußverse, deren Vorwegnahme im ersten Vers die Struktur des Gedichts bestimmen, bestätigen Baudelaires Ziel, den körperlichen Zerfall zu überwinden, indem er ihn in einen schöpferischen Akt umdeutet. Aus seinen "amours décomposés" werden "chair et esprit" künstlerisch zusammengefügt, womit zugleich die beiden Kunstprozesse, die der Zerlegung und der Schöpfung, veranschaulicht werden. Bei Baudelaire steht demnach der Vorgang der "décomposition" in direkter Beziehung zum Bewußtsein einer zerfallenden Wirklichkeit, die es poetisch zu verwandeln gilt.
Der klaren Polarität von Schönheit und Häßlichkeit entsprechend wird dieses Gedicht durch starke dissonante Töne bestimmt - vor allem in Form von Antithesen wie in der zweiten und den drei letzten Strophen.
27. Vgl. Zitat 19
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