Rede von
Professor Wladyslaw Bartoszewski
Träger des Heine-Preises 1996
der Landeshauptstadt Düsseldorf

Im Schatten der Diktaturen fing mein bewußtes Leben an und das meiner ganzen Generation. Als Schuljunge habe ich die Machtergreifung in Deutschland 1933 erlebt, die Entwicklung des Italienischen Imperiums inklusive Äthiopienkrieg, den spanischen Bürgerkrieg mit allen politischen Folgen, das Münchener Abkommen, den Anschluß Österreichs, die Liquidierung der Tschechoslowakischen Republik bis zum Molotow-Ribbentrop-Abkommen im August 1939 und den Anfang des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Die Presseberichte über Dachau und das November-Pogrom im Jahre 1938, die Kommentare über die Moskauer Schauprozesse begleiteten mich in der Zeit der Vorbereitung zum Abitur. Dann sind die sehr persönlich erfahrenen Geschehnisse gekommen und die ganz persönlichen Erfahrungen des Lebens unter Diktaturen über 5 Kriegsjahre in meinem besetzten und NS-regierten Lande (in dieser Zeit sieben Monate in Auschwitz), lange 45 Jahre ab 1945 bis zur Neugründung der souveränen polnischen Republik, gleichzeitig zum Mauerfall in Berlin und der politischen Wende in Ungarn und in der Tschechoslowakei unter kommunistischer Diktatur in der härtesten Form bis 1953/54.
Meine persönliche Geschichte wurde für mich entschieden. Ich habe den Weg nicht gewählt...
Am 19. September 1940 bei Tagesgrauen umstellten SS-Leute mit einer dichten Postenkette einige Wohnblocks in verschiedenen Teilen der Stadt Warschau. Man holte mich aus dem Haus. Mein Ausweis eines Angestellten des Polnischen Roten Kreuzes half nichts; nach einer Stunde wurde ich - so wie einige tausend andere Männer im Alter von 16 bis 65 Jahren - auf einen Lastwagen verladen und in die Kasernen des SS-Reiterregiments gebracht. Niemand wurde dort verhört und keiner wurde irgendeines Vergehens beschuldigt. Nach drei Tagen war ich schon in Auschwitz als politischer Häftling Nr. 4427. Von Auschwitz wußten wir damals noch nichts; das Lager Auschwitz I funktionierte erst seit drei Monaten. Außer einigen Dutzend deutscher Krimineller die die Funktionen von Kapos und Blockältesten ausübten, waren damals fast ausschließlich Polen in Auschwitz inhaftiert, und zwar hauptsächlich Intelligenzler. Es gab noch keine Gaskammern, aber der Kamin des Krematoriums qualmte schon Hunger, Prügel, Arbeit über alle menschlichen Kräfte verschlangen Tag für Tag Dutzende Opfer. Zum ersten Mal in meinem Leben - wenn auch nicht zum letzten Mal - empfand ich damals das Gefühl völliger Hilflosigkeit angesichts der Mißhandlung von Menschen als Opfer und als Zeuge. Mehr als einmal sagte man mir du bist jung, du hast offene Augen, falls du überlebst, mußt du das beschreiben. Man wird dir ohnehin nicht glauben, und falls man dir sogar glauben sollte - wird man es sich doch nicht vorstellen können...
Als ich im April 1941 von Auschwitz nach Hause zurückkehrte (einige hundert Personen - vorwiegend Opfer von Razzien, gegen die nichts Konkretes vorlag - wurden im Frühling und Sommer dieses Jahres entlassen, infolge intensiver Bemühungen ihrer Arbeitgeber - mein Arbeitgeber war das Polnische Rote Kreuz -), lebten von den dreizehn Männern, die man zusammen mit mir aus einem einzigen Haus im Stadtviertel Zolibórz geholt hatte, zehn oder elf nicht mehr. Sie hatten den ersten Lagerwinter nicht überstanden ... Bald gelang es mir, einen ziemlich ausführlichen Bericht über die Verhältnisse, die im Konzentrationslager Auschwitz I herrschten, einer Person, die mit der Leitung der polnischen Widerstandsbewegung direkte Verbindung hatte, zuzuleiten. Er wurde zu einer der Quellen, auf Grund derer die ersten Geheimpublikationen über Auschwitz bearbeitet wurden, die Anfang 1942 in Warschau erschienen. Nach der einige Monate währenden >>Quarantäne<<, die damals aus Sicherheitsgründen Pflicht war - begann ich im Untergrund zu arbeiten. Die Lagererfahrungen übten einen bedeutenden Einfluß auf die Wahl meines weiteren Weges aus. Ich war der Meinung, daß die dringendste und wichtigste Aufgabe in jenem Moment darin bestand, leidenden, isolierten, auf irgendeine Weise verfolgten Menschen zu helfen, und das, was ich gesehen hatte und wußte, besonders mir die Pflicht auferlegte, unmittelbar und aktiv zu handeln. Und so entschied das Jahr 1942 über die konkrete Richtung meines Einsatzes im Kampf gegen die Okkupanten. Im Sommer dieses Jahres nahm ich die Verbindung mit der Geheimaktion auf, die sich die Aufgabe stellte, den Juden zu helfen. Diese Aktion führte - anfangs im kleinen Kreis von Freunden und Mitarbeitern - die bekannte katholische Schriftstellerin Zofia Kossak, eine Art polnische Gertrud von Le Fort. Als Ende September 1942 diese Aktion in bestimmte organisatorische Formen gefaßt und das sogenannte Provisorische Hilfskomitee für die Juden gebildet wurde, beteiligte ich mich an seinen Arbeiten, später - Anfang Dezember 1942 - nahm ich an der Organisation des Hilfsrates für Juden teil, der der geheimen Regierungsdelegatur der Londoner Regierung unterstand. 1942 trat ich auch der Heimatarmee bei der Informationsabteilung im Informations- und Propagandabüro beim Hauptkommando zugeteilt, erlangte ich bald daraut unter anderem Zutritt zu wertvollem Material über verschiedene Formen der von den Okkupanten angewandten Terrorpolitik.
Die Nachrichten und Gerüchte, die über die hohe rote Mauer drangen, welche vom Rest Warschaus das vor zwei Jahren gegründete Ghetto abtrennten (mitsamt dem im Ghettogebiet gelegenen Zentralen Politischen Gefängnis der Sicherheitspolizei - dem Pawiak) weckten in meinen Gedanken und in meiner Phantasie fast automatisch Assoziationen mit den Ertahrungen, die ich aus Auschwitz mitgebracht hatte. Im Juli, August und September 1942 wurden mehr als 310 000 Juden aus der Stadt nach dem Vernichtungslager Treblinka II abtransportiert. Immer mehr Flüchtlinge aus dem Ghetto benötigten sofortige Hilfe; viele von ihnen waren schon auf der >>arischen<< Seite in deutsche Hände gefallen - oftmals gemeinsam mit den polnischen Familien, die ihnen Obdach gewährt hatten. Das bedeutete Folter und Tod. Vom Gefängnis der Sicherheitspolizei gingen unaufhörlich Transporte mit polnischen Gefangenen, Frauen und Männern, ab - nach Konzentrationslagern.
Ab Ende 1942 habe ich parallel mit anderen Aktivitäten in einer Abteilung der Vertretung der Londoner Regierung gearbeitet, deren Hauptaufgabe darin bestand, den Häftlingen auf organisierte Weise Hilfe zu leisten, Informationen aus den Gefängnissen und Lagern zu erlangen und Material über die Naziverbrechen an Polen und Juden zu sammeln, um sie - sofort und nach dem Krieg - auf internationalem Forum auszuwerten. Ich verfolgte von da an Tag für Tag viele tragische und verwickelte menschliche Schicksale, wirkte mit als kleines Rädchen der großen Geheimmaschinerie, wenn Personen, denen Verhaftung drohte, gewarnt wurden, wenn von Deutschen gesuchte Polen und Juden falsche Papiere zugestellt bekamen, wenn man eine sichere Unterkunft für die Nacht finden mußte - mit einem Wort, bei vielen anscheinend geringen und unbedeutenden Unternehmen, die aber eine notwendige Bedingung unserer damaligen Existenz waren.
Diesen alltäglichen Tagesablauf unterbrach erst der Warschauer Aufstand am 1. August 1944. Während der 63 Tage des Aufstands war ich einfacher Soldat der Heimatarmee, diente in einer der Funkstationen, redigierte eine der hundert Zeitschriften der Aufständischen, die in jenen Teilen Warschaus herausgegeben wurden, aus denen man die Okkupanten vertrieben hatte. Die tragische Einsamkeit und die Unterdrückung des Aufstands, den jähen Untergang der Stadt und der bald zweihunderttausend Einwohner empfanden wir damals als Erschütterung unseres Glaubens an den Sinn des Lebens, als Niederlage jeglicher Hoffnung, als allerpersönlichste Niederlage. Unter den Ruinen ließen wir unsere Nahen und Nächsten zurück, unsere Altersgenossen und Freunde. Angesichts des Todes dieser unzähligen Jungen, Frohen, das Leben Liebenden, schien uns unsere eigene zufällige Errettung fast beschämend.
Fünfzig nach dem Zweiten Weltkrieg durchlebte Jahre haben mir neue bittere Erfahrungen nicht erspart. Ich war Zeuge vielfältigen Unrechts, das über edle, aufrechte und opferbereite Menschen hereinbrach, Zeuge von brutaler Gewalt und unverdienten Leiden, von Hilflosigkeit und Resignation, aber auch von Charakterstärke und Mut. In den Jahren 1946-54 brachte ich eine schwere Zeit im kommunistischen Gefängnis hinter mich (sechs Jahre und sieben Monate), um in der Nacht der Einführung des Kriegszustands in Polen am 13. Dezember 1981 die Freiheit erneut für über vier Monate zu verlieren. Das ergab eine runde Summe von acht Jahren hinter Stacheldraht und Gittern.
Der beruflichen Möglichkeiten, die meinen Interessen und Fähigkeiten entsprachen, war ich beraubt. Es gab Jahre, in denen ich weder Bücher noch Artikel veröffentlichen durfte, obwohl das Schreiben mein Beruf ist. Dennoch habe ich in meinem Leben einige Dutzend Bücher und ein paar hundert historische Abhandlungen, Beiträge, Essays und Artikel veröffentlicht. Ich bin auf Haß und Zynismus gestoßen, aber auch auf Anerkennung und Freundschaftsbeweise großartiger Menschen, an denen mir gelegen war und liegt. Als Hochschulleher in Polen, danach in der Bundesrepublik Deutschland hatte ich Gelegenheit, mit jungen Menschen zusammenzukommen, deren ganze Lebenseinstellung und Engagement für die humanistischen Grundwerte mich immer wieder Analogien zu den Erfahrungen meiner Generation herstellen ließen. Freunde und das Wohlwollen vieler fremder Menschen habe ich ebenfalls in Israel, Großbritannien und der Schweiz gewonnen. aher auch was ich ja nicht erwarten konnte - in Deutschland.
Hätte mich jemand nach den Schwerpunkten in meinem Leben nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt, dann würde ich folgende aufreihen
- Im Oktober 1963 nach der Entzündung des ewigen Feuers in der Krypta auf dem Berg des Gedenkens (Har Hazikaron) in Jerusalem (Yad Vashem) neben dem symbolischen Grab, in dem die Asche der Opfer des jüdischen Volkes aus sämtlichen Nazikonzentrationslagern bestattet ist, hörte ich die Eidesformel in hebräischer und, nachher wiederholt, in polnischer Sprache, die mit folgenden Worten endet
>>Wir gedenken der heldenhaften Taten der Ghettokämpfer, der Untergrundkämpfer, der Partisanen und Soldaten, die den Leitspruch des Kampfes gegen die übermächtigen Kräfte des Feindes zur Rettung der Ehre ihres Volkes folgten. Mit Ehrerbietung gedenken wir jener, die mit Würde und Beharrlichkeit ihr Menschentum verteidigten; jener, die im Namen der heiligsten menschlichen Ideale und unter Lebensgefahr den Juden Hilfe leisteten.<<
Ich wurde damals mit dem Titel eines >>Gerechten unter den Völkern der Welt<< gewürdigt und dachte an alle meine Freunde und Mitarbeiter, Polen und Juden, mit denen ich das Glück hatte, gemeinsam für eine Sache zu arbeiten, in der wir in jenen Tagen nicht nur die Aufgabe der Rettung des Lebens anderer sondern auch die Frage der Rettung der eigenen Menschenwürde erblickten.
Am 5. Oktober 1986 bekomme ich in der Pauls-Kirche in Frankfurt am Main den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und sage klar in meiner Dankesrede >>Die Generation, der ich angehöre, hat mit eigenen Augen die Mauern und Drahtverhaue gesehen, welche die Menschen trennten, die Mauern der Ghettos von Warschau und anderswo, die Mauer, die jahrelang quer durch Jerusalem lief, und die Mauer, die bis heute Berlin teilt. Es scheint das wichtigste zu sein, all das zu unterstützen, was die Menschen verbindet, und sich all dem zu widersetzen, was die Menschen gegen ihren Willen trennt.
Die denkenden Polen haben nämlich begriffen und verstanden, daß es ohne ein freies, vereinigtes Deutschland keine europäische Zukunft für ein souveränes, demokratisches Polen gibt.
Das Jahr 1989, das Jahr des Durchbruchs in unseren Beziehungen, und die darauffolgenden Ereignisse, vor allem die Vereinigung Deutschlands und der Beginn demokratischer Reformen in Polen und in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, stießen nicht auf ein Vakuum, auf Schweigen und Unwillen zwischen unseren Nachbarvölkern. Es stellte sich heraus, daß die polnisch-deutsche Grenze uns nicht auf Dauer und unumkehrbar getrennt hatte. Dies wurde unter anderem durch die Tätigkeit der Organisationen und Gruppierungen bewirkt, die über viele Jahre hinweg die Richtung aufzeigten, in der Polen und. Deutschland streben sollten. Noch sehr lebendig steht mir die Geste des Friedenszeichens vor Augen, das Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl 1989 in Kreisau austauschten. Wäre dies möglich gewesen ohne den vorangegangenen Briefwechsel zwischen den polnischen und den deutschen Bischöfen? Ohne Willi Brandts Vertrag in Warschau am 7. Dezember 1970? Heute können wir voller Stolz und ohne die geringste Übertreibung feststellen, daß die jetzigen Beziehungen zwischen unseren Ländern sehr gut sind. Den neuen Charakter der gegenseitigen Bande besiegelte der Abschluß des Vertrages über die Bestätigung der bestehenden Grenze vom 14. November 1990 und des Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Vorteilhaft entwickeln sich die polnisch-deutschen Kontakte auf höchster politischer Ebene. Die parlamentarische Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ressorts entwickeln sich intensiv. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an den Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Polen im Juli 1995, der der bilateralen Zusammenarbeit neue Impulse verlieh. Mit Befriedigung beobachte ich die Intensivierung der zwischenmenschlichen Kontakte, der Städtepartnerschaften, der Kontakte zwischen Gesellschaften, Organisationen, Schulen und Hochschulen und insbesondere Jugendlichen.
Ich bin davon überzeugt, daß in unserer Zukunft der Geist der Versöhnung und der Verständigung im Namen der gemeinsamen europäischen Werte auf Dauer Einzug halten wird. Sie werden uns auch auf unserem gemeinsamen Weg in das 21. Jahrhundert begleiten.
Der Aufbau der Demokratie, der Aufbau der Rechtsstaatlichkeit, der Neuanfang in den post-kommunistischen Gesellschaften hängt jetzt weitgehend von den Menschen, von allen Menschen, aber auch von jedem einzelnen Menschen ab. Wie weit sind aber diese Menschen bereit und in der Lage, die neue demokratische Ordnung, die sie ja mehr oder weniger bewußt selbst gewollt haben, konstruktiv mitzugestalten? Es gibt keine optimistische Antwort auf eine solche Frage. Wenn nämlich jemand über viele Monate schwer krank gewesen ist, erwartet niemand, daß er gleich wieder voll mitmachen kann. Wieso erwarten wir dies eigentlich von den Menschen, die über 45 Jahre - im Fall der DDR noch länger (von 1933 bis 1990) und auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion über 70 Jahre lang nicht normal gelebt haben, nicht gesund waren? Normal und gesund bedeutet für mich frei, offen, demokratisch, politisch ausgebildet und so weiter. Woher sollen denn diese Dutzende Millionen Menschen in der mittelost-europäischen Stunde Null plötzlich die Fähigkeit haben, es dem europäischen Westen in dieser Hinsicht gleichzutun? Das war völlig unmöglich.
Jahrzehntelang hat man in den kommunistischen Staaten die Menschen absichtlich daran gehindert, miteinander - über die Staats- oder Provinzgrenzen hinweg - den wahren, authentischen, tieferen Kontakt und Dialog aufzunehmen. Die Entfremdung und eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der anderen hat man auf diese Weise vorausprogrammiert und gefördert. Es wäre also jetzt mehr als naiv, die allgemeine Fähigkeit der Menschen in den postkommunistischen Staaten zum Dialog mit den anderen zu erwarten, auch wenn/falls guter Wille zu einem solchen Näherkommen vorhanden wäre. Jetzt, in den ersten sechs Jahren der postkommunistischen Zeit in Mittel- und Osteuropa, versagt in vielen Fällen die in dem Prozeß des Aufbaus der demokratischen Ordnung unentbehrliche Toleranz, die Achtung für den andersdenkenden, andersgesinnten, andersglaubenden, andersgläubigen Menschen. Viele Menschen sind nicht daran gewöhnt, ohne politisches Protektorat, sogar ohne Direktiven oder Hinweise zu leben. Sie erwarten alles oder sehr viel vom Staat, sprich von den neuen, postkommunistischen Regierungen, und sind nur selten bereit, jetzt, nach dem Zusammenbruch des autoritären Systems, weiter schmerzliche Opfer zu tragen im Interesse des gemeinsamen Wohls in der Zukunft. Eine bedeutende Rolle spielt hier besonders das Gefühl der sozialen Unsicherheit. Solange der totalitäre oder autoritäre Staat Herrscher war, mußte man sich beugen und anpassen, aber wenn jemand den Mund gehalten hat, konnte er in gewisser Weise sicher auf dem niedrigen Niveau überleben. Und um mehr ging es Millionen Menschen nach der Stalin-Periode nicht. Jetzt ist alles komplizierter geworden.
Die eigentlichen Probleme sind aber nicht nur wirtschaftlicher Natur. Es mangelt an moralischen Orientierungen. Eines der möglichen Beispiele wäre hier die um sich greifende Selbstbedienungsmentalität, das Versickern öffentlicher Mittel in dunklen Kanälen der neuen privaten Handelsfirmen und Aktiengesellschaften, sogar gewisser Privatbanken. Die Menschen im ehemaligen Ostblock haben zwar der kommunistischen Nomenklatura die dunklen Machenschaften im wirtschaftlichen Bereich, die auffallende Tendenz der Parteifunktionäre zur persönlichen Bereicherung um jeden Preis, übelgenommen, aber jetzt, im Prozeß des Aufbaus der neuen Gesellschaften in der postkommunistischen Zeit, merkt man viel zu oft, daß die gewissenhafte Pflichterfüllung und absolute Unbestechlichkeit zur Einstellung gehören, die nicht mehr und sicher nicht überall sehr gefragt ist und praktiziert wird. Es scheint vielmehr zunehmend als erstes Bürgerrecht zu gelten, zu konsumieren und sich die Taschen vollzustopfen. Die neuen Gesellschaften in den postkommunistischen Ländern sind viel mehr psychologisch auf den schnellen Genuß programmiert als auf die organische Arbeit ohne Chance auf den schnellen materiellen Erfolg. Gelegentlich spürt man Angst vor der möglichen Bedrohung durch die Rückkehr der kommunistischen Diktatur irgendeiner Art. Ich sehe zwar keine Gefahr eines Rückfalls in den Kommunismus, gleichgültig welcher Prägung Maos, Trotzkis, Stalins oder welche auch immer. Aber es besteht eine gewisse Gefahr der neuen Frontenbildung zwischen nationaler chauvinistischer Engstirnigkeit der Menschen einerseits und den Begriffen der Toleranz, des Liberalismus, des Christentums andererseits. Es gibt sicher jene hehren, schönen Motivationen, die wir alle anerkennen, ob wir nun gläubig sind oder nicht. Aber diese positiven Motivationen sind nicht unbedingt verwurzelt im Alltagsdenken jener Millionen von Menschen in den Ländern, die sich jetzt befreit haben. In allen diesen Ländern besteht eine ähnliche Gefahr, enn sich die Wirtschaftslage verschlechtert. Die Gefahr - wie der namhafte polnische Politiker und Wissenschaftler, der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des Parlaments, Professor Bronislaw Geremek gesagt hat - einer totalitären Versuchung, in der trügerischen Hoffnung, die Ruhe und die Zukunftsperspektiven sofort zu erreichen durch irgendwelche Dekrete, harte Maßnahmen, scharfe Entscheidungen. Die demokratische Handlungsweise scheint den Menschen, die autoritär regiert waren, oft zu kompliziert und undurchschaubar.
Wir wissen und erfahren immer aufs neue relativ viel über die wirtschaftliche Lage und wirtschaftliche Perspektiven der einzelnen Staaten und Regionen, der Branchen und Industriezweige. Welche Faktoren bestimmen aber die geistige und die intellektuelle Situation der Menschen aus den postkommunistischen Staaten auf den Weg in die Zukunft? Meiner Meinung nach die Gesinnung, die Überzeugung, die politische Kultur wie auch der Glaube, die Religion. Diese Faktoren haben auch eine wesentliche Rolle im Leben der Menschen in kommunistisch regierten Ländern gespielt, obwohl sie nicht in allen Ländern die gleiche Bedeutung gehabt haben. Die Folgen der unterschiedlichen Situationen aus der Zeit vor 1989/90 wirken bis heute in Polen und in Ungarn, in Tschechien und in der Slowakei, auf andere Weise in Rumänien und Bulgarien, in den baltischen Republiken und besonders schwerwiegend in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, Beispiel Weißrußland. Das Hauptproblem für die Menschen im postkommunistischen Teil Europas ist heute, den Mut und die Hoffnung zu haben nämlich den Mut für die Zukunft und die feste Hoffnung auf die Möglichkeit der besseren Zukunft der Menschen an dieser Stelle der Welt. Ich glaube, daß jeder Intellektuelle, der sich im Europa im Jahr 1996 zu Wort meldet, um den Stand der Dinge zu überlegen und über die Hoffnung auf Zukunft Europas, also auf die Zukunft der Menschen in Europa zu reden, moralisch verpflichtet ist, vor dem weiteren Versagen der europäischen Politiker zu warnen. Das, was gerade jetzt, heute, auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien passierte und noch passiert, ist eine bittere Lehre, eine dringende Warnung vor jeder Überheblichkeit bei der Beurteilung der Fähigkeit eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen. Es ist auch eine tragische Schau der Kurzsichtigkeit und Ratlosigkeit und der gleichzeitig diese Ratlosigkeit begleitenden Heuchelei mehrerer Politiker aus den Staaten der etablierten Demokratie.
Es bleibt uns die Hoffnung auf die gesunden Kräfte in den Menschen, die in Polen, in Ungarn, in Tschechien, aber auch in Slowenien und anderswo ohne Gewaltanwendung und Blutvergießen zu weitgehenden demokratischen Umwandlungen geführt haben. Es bleibt uns die Hoffnung auf Stärke der gemeinsamen kulturgeschichtlichen Werte, die doch von Millionen Menschen in der harten Zeit der Proben in den diktatorisch regierten Staaten vor 1989/90 in vielen Fällen bewahrt worden sind.
Mein merkwürdiges Erlebnis in Verbindung mit Heine, eine kleine Szene, fast grotesk
März 1944 im besetzten Warschau. Die Warschauer Juden sind schon umgebracht worden, die polnisch-christlichen Warschauer stehen weiter unter permanentem Druck Verhaftung, KZ-Transporte und Erschießungen in der Stadt gehören zur Tagesordnung. Hausdurchsuchungen sind auch selbstverständlich. Als Berufs-Widerständler war ich damals schon gut vorbereitet, habe entsprechende Papiere und eine gute Legende gehabt.
Zwei Schutzpolizisten kommen in meine Wohnung, frühmorgens, noch vor der Polizeistunde. Ich bin dort mit einem Kollegen, dessen Papiere auch in Ordnung waren. Sie gehen durch die Wohnung, prüfen wie üblich Schränke und Schubladen und sehen plötzlich meine Bücherschränke auch mit deutschen Büchern, meistens Klassikern. Eine schön gebundene, alte Heine-Ausgabe. Der Polizist fragt >>Lesen Sie deutsch?<< >>Ja<<, antworte ich ohne große Lust zur Diskussion. Er nimmt einen der Heine-Bände in die Hand und betrachtet ziemlich gleichgültig den Namen >>Wer ist das?<<, fragt er. Da regt sich in mir ein Teufelchen, und ich zitiere ihm aus dem Kopf

>>Die Nacht ist kühl
        und es dunkelt
        und ruhig fließet der Rhein,
        der Gipfel des Berges funkelt
        im Abendsonnenschein...<<

>>Das ist so ein Volkslied<<, sagt mir der Polizist. >>Aber von Heine<<, antworte ich. >>Nicht, daß ich wüßte.<<
Sie haben sich bei dieser Hausdurchsuchung korrekt benommen, aber für mich war das eine neue Grunderfahrung. Diese Leute, besser ihre Lehrer, gehörten doch nicht zu unserem Europa, zum Europa von Heine und auch nicht zum Europa des jungen polnischen Studenten, der ich damals war.
Ein anderes Bild, ein halbes Jahrhundert danach...
Im jetzigen Europa hat der damalige junge polnische Student Bartoszewski als Außenminister seines Landes - der freien Republik Polen - von dem deutschen Bundeskanzler ein schönes und fast symbolisches Geschenk bekommen. Helmut Kohl hat mir im Juli 1995, bei seinem offiziellen Besuch in Polen, in Warschau, in Krakau und in Auschwitz, wo ich ihn begleiten konnte - eine wertvolle alte Ausgabe Heines Sämtlicher Werke geschenkt zwölf Bände in Leder verlegt bei Hoffmann und Campe 1876. Ich habe jetzt aufs neue diese alten Bücher durchgeblättert und dort Heines Bemerkungen Über Polen aus dem Jahre 1822, also von vor ungefähr 175 Jahren, gefunden. Es lohnt sich, einige zu zitieren
1. Über den Bauernstand
>>Viele Edelleute wünschen die Selbständigkeit der Bauern - der größte Mensch, den Polen hervorgebracht hat und dessen Andenken noch in allen Herzen lebt Thaddäus Kosciuszko' war eifriger Beförderer der Bauern-Emanzipation, und die Grundsätze eines Lieblings dringen unbemerkt in alle Gemüter. Außerdem ist der Einfluß französischer Lehren, die in Polen leichter als irgendwo Eingang finden, von unberechenbarer Wirkung für den Zustand der Bauern. Sie sehen, daß es mit letzteren nicht mehr so schlimm steht und daß ein ahmähliges Selbständigwerden derselben wohl zu hoffen ist.<<
2. Über die Juden
>>Zwischen dem Bauer und dem Edelmann stehen in Polen die Juden. Diese betragen fast mehr als den vierten Teil der Bevölkerung, treiben alle Gewerbe, und können füglich der dritte Stand Polens genannt werden. Ihre Sprache ist ein mit Hebräisch durchwirktes, und mit Polnisch faconniertes Deutsch. Sie sind in sehr frühen Zeiten wegen Religionsverfolgung aus Deutschland nach Polen eingewandert, denn die Polen haben sich in solchen Fällen immer durch Toleranz ausgezeichnet Als Frömmlinge einem polnischen Könige rieten, die polnischen Protestanten zum Katholizismus zurück zu zwingen, antwortete derselbe >Sum rex populorum sed non conscientiarum.<
- Die Juden brachten zuerst Gewerbe und Handel nach Polen und wurden unter Kasimir dem Großen mit bedeutenden Privilegien begünstigt. Sie scheinen dem Adel weit näher gestanden zu haben als den Bauern; denn nach einem alten Gesetz wurde der Jude durch seinen Übertritt zum Christentum eo ipso in den Adelsstand erhoben. Ich weiß nicht ob und warum dieses Gesetz untergegangen und was etwa mit Bestimmtheit im Werte gesunken ist.
- In jenen früheren Zeiten standen indessen die Juden in Kultur und Geistesausbildung gewiß weit über dem Edelmann, der nur das rauhe Kriegshandwerk trieb und noch den französischen Firnis entbehrte. Jene aber beschäftigen sich wenigstens immer mit ihren hebräischen Wissenschaft- und Religionsbüchern, um derentwillen eben sie Vatedand und Lebensbehaglichkeit velassen. Aber sie sind offenbar mit der europäischen Kultur nicht fortgeschritten, und ihre Geisteswelt versumpfte zu einem unerquicklichen Aberglauben, den eine spitzfindige Scholastik in tausenderlei wunderliche Formen hinein quetscht. Dennoch, trotz der barbarischen Pelzmütze, die seinen Kopf bedeckt und der noch barbarischeren Ideen, die denselben füllen, schätze ich den polnischen Juden weit höher als so manchen deutschen Juden, der seinen Bolivar auf dem Kopf und seinen Jean Paul im Kopfe trägt. In der schroffen Abgeschlossenheit wurde der Charakter des polnischen Juden ein Ganzes; durch das Einatmen toleranter Luft bekam dieser Charakter den Stempel der Freiheit.<<
Und zu guter Letzt
3. Über die Gesinnung der Polen von damals
>>Die Vaterlandsliebe ist bei den Polen das größte Gefühl worin alle anderen Gefühle, wie der Strom in das Weltmeer zusammenfallen (..). Wenn das Vaterland das erste Wort des Polen ist, so ist Freiheit das zweite. Ein schönes Wort! Nächst der Liebe gewiß das schönste. Aber es ist auch nächst der Liebe das Wort, das am meisten mißverstanden wird, und ganz entgegengesetzten Dingen zur Bezeichung dienen muß.<<
Meine Damen und Herren! Sie begreifen sicher gut, warum jeder sensible Pole Heinrich Heine lieben muß und warum ich mich besonders durch den Preis seines Namens geehrt fühle.


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