Laudatio
von Dr. h.c. Johannes Rau,
Ministerpräsident
des Landes Nordrhein-Westfalen
aus Anlaß der Überreichung der
Ehrengabe der Heine-Gesellschaft
an Frau Professorin Dr. Ruth Klüger
am 16. Februar 1997
im Düsseldorfer Schauspielhaus
am Gustav-Gründgens-Platz
Frau Oberbürgermeisterin, meine Damen und Herren,es wäre wohl angemessen,wenn ich mit einem Heine-Zitat begönne. Aber von Heinrich Heine ist ja schon ausführlich die Rede gewesen, und ich verspreche, daß er auch in meinen Ausführungen nicht zu kurz kommen wird.
Doch bei der Vorbereitung auf das,was ich heute sagen möchte, bei der Beschäftigung mit Ihrem Leben und Werk, liebe, verehrte Frau Klüger, scheint es mir passender zu sein, für den Beginn ein anderes Stück Weltliteratur zu wählen. Ein Buch, das meine Kinder lesen. Eines jener vordergründig naiven und heiteren, und doch so hintergründigen und tiefsinnigen Bücher. Lewis Carrolls Alice im Wunderland -
>> >Ich sehe niemand auf der Straße<, sagte Alice.
>Ich wollte, ich hätte solche Augen<, sagte der König verdrießlich.
>Niemand sehen können ! Und auf eine solche Entfernung. Ich kann bei dieser
Beleuchtung selbst Leute, die es gibt, bloß mit Mühe erkennen.< <<
Ich habe den Eindruck, daß auch Ruth Klüger solche Augen hat, daß sie besondere Sehschärfe und Sehstärke besitzt. Diese Hellsichtigkeit fließt in ihr Werk ein, und damit hilft sie uns zu verhindern, daß das Niemandsland des Vergessens in uns wächst, daß es sich um uns ausbreiten kann. Ruth Klüger sieht Orte noch voller Leben, von denen wir uns längst angewöhnt haben, abstrakt und abschließend als Stätten des Todes zu sprechen.
Sie sieht Menschen, die es nicht mehr gibt, die gewaltsam ausgelöscht wurden, die ihr und den übrigen Geretteten aber noch sehr nahe sind. Sie sieht und beschreibt schließllich, wie alles anfing Wie sich antijüdische Vorurteile und Stereotype im Laufe der Zeit zu Gespenstern von grausamer Bösartigkeit entwickelt haben - wie das, was auf keinen einzelnen wirklich zutraf, ein ganzes Volk tödlich treffen konnte.
Die Folgen dieser verhängnisvollen Entwicklung hat Ruth Klüger als Jüdin in unserem Jahrhundert am eigenen Leib erlebt und erlitten. Sie hat sie erlitten in Wien, der Stadt ihrer ersten elf Jahre, die zum Feindesland wurde, aus dem die Flucht nicht glückte. Sie hat sie erlitten in den Lagern Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt (Groß-Rosen), in denen das Böse herrschte, in denen aber das Gute, das Rettende - Ruth Klüger hat es in Auschwitz erlebt - als Möglichkeit doch noch weiter bestand.
In Theresienstadt sei sie Jüdin geworden, sagt Ruth Klüger, in der Erfahrung enger Freundschaften, in der Begegnung mit Menschen wie Leo Baeck und in der Erkenntnis, daß alles, was von den Deutschen kam, >>ein einziges Elend war.<< >>Was gut war<<, schreibt Ruth Klüger, >>ging von unserer Selbst behauptung aus. So daß ich zum ersten Mal erfuhr, was dieses Volk sein konnte, zu dem ich mich zählen durfte, mußte, wollte.<<
Solche Hochachtung vor dem eigenen Volk, den Juden und dem Judentum, kennen wir auch von Heinrich Heine. Bei ihm ist es freilich eine späte Zuwendung, und sie ist nicht geboren aus mutigem Trotz wie bei Ruth Klüger. Schon eher ist sie der Resignation eines getauften Juden geschuldet, der von seinen christlichen Landsleuten zeitlebens als Außenseiter, als >>Ruhestörer<< angesehen wurde.
In Heines Geständnissen, zwei Jahre vor seinem Tode geschrieben, findet sich eine Passage, die ich als Liebeserklärung an das Judentum lese. Auch sie ist nicht frei von der feinen Selbstironie, die wir von Heinrich Heine kennen und die häufig ein Selbstschutz war, hinter dem sich ein verzweifeltes Herz verbarg. >>Wenn es nicht<<, so schreibt Heinrich Heine, >>bei den Kämpen der Revolution und ihrer demokratischen Prinzipien ein närrischer Widerspruch wäre, so könnte der Schreiber stolz darauf sein, daß seine Ahnen dem edlen Hause Israel angehörten, daß er ein Abkömmling jener Märtyrer ist, die der Welt einen Gott und eine Moral gegeben und auf allen Schlachtfeldern der Gedanken gekämpft und gelitten haben.<<
Daß solches Leiden und Kämpfen endlich ein Ende habe, darauf hat Heine gesetzt, und er sah durchaus Ansatzpunkte dafür, Ansatzpunkte dafür, daß in nicht allzu ferner Zukunft - wie er anmerkte - zwischen >>Juden und Germanen, diesen beiden Völkern der Sittlichkeit, eine Verwandtschaft stattfinde.<<
>>Juden und Germanen, Völker der Sittlichkeit<< Das mag erstaunlich klingen, aber Heinrich Heine hat das wirklich so geschrieben, und darauf gründete sich wohl seine Hoffnung, daß es in Deutschland nicht mehr geben werde, was sich im Jahre 1840 in Damaskus ereignete und was ihn zutiefst empörte.
Judenpogrome wie in Damaskus, begangen von aufgehetzten Volksmassen, getragen von uralten Vorurteilen, das glaubte Heine für Deutschland ausschließen zu können. Dagegen, so sagte er, spreche die >>größere Gelahrtheit<< der Deutschen und ihre geschichtlichen Kenntnisse, die so sehr verbreitet seien, daß - wie Heine schreibt - , >>selbst der grimmigste Groll nicht mehr zu den alten Blutmärchen greifen darf<<.
Gewiß Heinrich Heine hat auch bemerkt, daß es solch mittelalterlicher Schauermärchen gar nicht bedurfte, daß sich, wie er schrieb, >>der traditionelle Groll in moderne Redensarten kleidete<<. Aber es lag offenbar doch außerhalb seiner Vorstellungskraft, daß der kalte Haß des Rassismus weit enthemmender wirken konnte als die heiße Wut einer aufgehetzten Volksseele. Und es wäre, meine Damen und Herren, billige Klugheit, wenn wir, die wir 150 Jahre später Wissende sind, Heinrich Heine, der seine Landsleute besser kannte als irgendeiner, vorwürfen, daß er nicht ahnen konnte, wozu sie einmal fähig würden.
Nicht, daß sich Heinrich Heine über die Situation eines Juden unter Deutschen etwas vorgemacht hätte. Er wußte Seine Ahnen gehörten >>nicht zu den Jagenden, sondern viel eher zu den Gejagten<<. So schreibt er es in den Reisebildern, in der Jagd am Strande hellsichtig. Heine kannte nur zu gut das Gefühl, abgewiesen, verschmäht, geschmäht zu werden; nicht dazuzugehören - weil man Jude war. Diese >>Unzugehörigkeit<< - wie das Marcel Reich-Ranicki genannt hat - markierte nicht den Rand, sondern die Mitte seiner Existenz.
Und aus diesem Paria-Sein schöpfte er verzweifelte Kraft. Die Selbstbehauptung, die daraus erwuchs, wurde zur entscheidenden Grundlage seines Dichtertums. Darauf hat Hannah Arendt mit Recht hingewiesen. Heines Dichtung lebt aus dem Leiden und dem Erleiden und aus der Klage, die - so hat Hannah Arendt gesagt - seit alters her die Poesie ganz wesentlich prägt.
>>Ich hab den Verstand nicht verloren, ich hab Reime gemacht<<, das schreibt Ruth Klüger über ihre Zeit in den Lagern. Sicher Das waren Kinderreime. Sie wurden in höchster Not geschrieben, und daß sie geschrieben wurden, war eine existentielle Notwendigkeit. Das war notwendig, um ein Geschehen, das keinen Sinn machte, zu deuten, um es wenigstens in eine Ordnung zu bringen, in der, Freund und Feind, Gut und Böse unterschieden werden konnten. Das war auch nötig, um das Gefühl und das Mitgefühl nicht zu verlieren, um sich als Mensch nicht aufzugeben. Schreiben, dichten, Reime machen, das war schließlich notwendig, um über das Erzählen das Erinnern anzustoßen und nicht zu verlieren; Hannah Arendt hat das als eine der wichtigsten Aufgaben von Dichtung überhaupt bezeichnet.
Dichtung und Poesie als Möglichkeit und M.edium der Selbstbehauptung, jüdischer Selbstbehauptung; hier sehe ich starke Parallelen zwischen Heinrich Heine und Ruth Klüger - trotz aller Unterschiede, und obwohl zwischen beider Erfahrungen Welten liegen, Welten, die der von uns Deutschen verschuldete Zivilisationsbruch verursacht hat.
Aber ich sehe auch eine andere enge Wahlverwandtschaft zwischen unserem Dichter und Ihnen, liebe, verehrte Frau Klüger. Nicht von ungefähr werden Sie gleich im Anschluß über Heine als Aufklärer sprechen. Der Tradition der Aufklärung fühlen auch Sie sich eng verbunden, und verpflichtet fühlen Sie sich vor allem dem jüdischen Beitrag dazu.
Sie weisen in Ihrem Werk immer wieder auf die dichte Kette der Frauen und Männer hin, auf die lange Reihe von Moses Mendelssohn bis Hannah Arendt, ohne die es die Aufklärung, wie wir sie kennen, nicht gegeben hätte; ohne die auch Deutschland nicht das Land der Dichter und Denker geworden wäre.
In diese Reihe gehört Heinrich Heine. Er steht sogar in der vordersten Linie.
In einem Ihrer wissenschaftlichen Essays, die selbst ein Stück Literatur sind, in Ihrer Arbeit über Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, haben Sie darauf hingewiesen, wie sehr sich Heine darum bemüht hat, >>Vorurteile abzubauen, jüdisches Leben und jüdische Bräuche zu entmystifizieren und den christlichen Nachbarn näher zu bringen<<.
Heines Novelle Der Rabbi von Bacherach - übrigens die poetische Antwort auf die Pogrome in Damaskus - ist ein Beispiel dafür, noch dazu ein literarisch besonders ausdrucksvolles und wertvolles Beispiel.
Es ist gewiß ein Zufall, daß diese Novelle ein Fragment geblieben ist. Aber es ist ein Zufall von hoher symbolischer Bedeutung. Denn auch der Brückenschlag, an dem sich Heinrich Heine aktiv beteiligte, ist nie vollendet worden. Zu stark waren die Vorurteile, zu stark waren die Gegenkräfte, die den Erfolg verhinderten.
Unter diesen Kräften waren durchaus achtbare Dichter, wie Ruth Klüger gezeigt hat. Sie belegt am Beispiel von Schriftstellern wie Clemens von Brentano, von Gustav Freytag, von Wilhelm Hauff und Wilhelm Raabe, wie sich antisemitische Konterbande auch in große Literatur hat einschmuggeln können. Sie zeigt, daß auch Dichter den Henkern vorgearbeitet haben.
Mit welchen Auswirkungen auf Mentalität und Verhalten der Deutschen, das bleibt eine offene Frage; genauso wie es eine offene Frage bleibt, ob sich der Holocaust gewissermaßen mit Naturnotwendigkeit aus dieser antisemitischen Vorgeschichte entwickelt hat, oder ob es für uns Deutsche auch andere Möglichkeiten der Entwicklung gegeben hätte. Die Diskussion des letzten Jahres, die Debatten um das Buch von Daniel Goldhagen haben gezeigt, daß wir uns dieser Frage noch intensiver stellen müssen, als wir das bislang schon getan haben.
Ruth Klüger und Heinrich Heine Ich hoffe, daß ich deutlich machen konnte, welche engen Verbindungslinien zwischen beiden bestehen. Aber Ruth Klügers autobiographisches Werk steht noch in einer anderen Tradition. Es steht in einer Reihe mit den eindringlichsten jüdischen Lebensbeschreibungen unserer Zeit; in einer Reihe mit den Tagebüchern, den Erinnerungen und Romanen von Primo Levi und Elias Canetti, von Danilo Kis, Louis Begley und Victor Klemperer, um nur einige wenige zu nennen.
Das ist eine besondere Art der Erinnerungsliteratur. Sie verlangt von uns - den Leserinnen und Lesern - besonders viel. Die meisten diesen,Werke führen uns ganz nahe an die Verfolgung, die Vertreibung und die.Vernichtung der europäischen Juden, so nahe, daß es viele von uns beklommen macht, manchen sogar verstört und zur Abwehr nötigt.
Wir sehen in seltener Schärfe. Wir sehen die Untergegangenen und die Geretteten. Wir sehen die wenigen Retter, die vielen Täter, und die Zu schauer, von denen es viel zu viele gab. Was diese getan oder nicht getan haben, das können wir genau erkennen und unterscheiden. >>Fast alle<<, schreibt Primo Levi, >>aber nicht alle, waren taub, blind und stumm gewesen Eine Masse von Invaliden, in ihrer Mitte ein Kern von Grausamen. Fast alle, aber nicht alle, waren feige gewesen.<< Und, liebe Frau v. Bennigsen-Foerder, daß Ihr Vater, Josef Wirmer, zu denen gehört hat, die nicht feige waren, das wollen wir nie vergessen. Er war ein großer und bedeutender Politiker und er war vor allem ein glaubwürdiger Mensch.
Feigheit und Tapferkeit, meine Damen und Herren Im Vernichtungskrieg verwischten die Unterschiede. In militärischen Kategorien galten viele der Retter nicht als tapfer; andererseits war die Feigheit, von der Primo Levi spricht, war dieser Ausdruck von Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit, etwas ganz anderes als die >>Feigheit vor dem Feind<<, wie sie die Kriegsgerichte definierten und wie sie sie als vorgeblich >>unmännliches Verhalten<< drakonisch bestraften.
Aber was war das männliches Verhalten im Krieg? Ruth Klüger hat es erlebt und auch dazu eine eigene, eine ganz entschiedene Meinung. Sie hat in den Lagern und.später auf der Flucht mit Frauen gelebt und überlebt. Sie hat einen Krieg überlebt, der - wie sie schreibt - >>den Männern gehörte<< und der unzähligen Frauen und Kindern das Leben kostete. Darum ist die Biographie ihrer Jugend auch ein Buch über weibliche Selbstbehauptung im Krieg; ein Buch über eine weibliche Haltung zum Krieg.
Dieser Haltung gilt die Achtung vor dem Leben mehr als die Todesverachtung; das Mitleid mit den anderen mehr als die Härte gegen sich selber. In dieser Sicht ist es wichtiger, der Stimme des Gewissens zu folgen als sich auf Befehle zu berufen; und es ist auch wichtiger, in jedem Fall menschlich, als um jeden Preis männlich zu handeln.
Ich glaube Wir können von dieser Haltung viel lernen. Ein autobiographisches Werk wie das von Ruth Klüger ersetzt gewiß nicht die wissenschaftliche Erforschung des Holocaust, aber es ergänzt die Forschung um eine ganz wichtige Dimension. Wissenschaft, auch Geschichtswissenschaft, versucht zu verstehen und zu erklären, auch das eigentlich Unverständliche und Unerklärliche. Wissenschaft zielt stets auf die Ratio, auf das Denken, nicht auf das Fühlen, auf die Richtigkeit, nicht auf die Sittlichkeit, auf den Sinn, der hinter dem Ganzen steht - auch unabhängig von der Moral, die sich darin äußert.
Bei Ruth Klüger und den anderen jüdischen Lebensbeschreibungen, die ich genannt habe, geht es um die Einheit von Denken und Fühlen im Erinnern, es geht um Moral, um Wahrhaftigkeit und Wahrheit. Und in Wahrheit schreibt Ruth Klüger, war Auschwitz >>der abwegigste Ort, den ich betrat<<, und das, was dort geschah, machte keinen Sinn.
Elke Schmitter hat recht, wenn sie anmerkt, daß sich alle diese Lebensbeschreibungen >>der Versuchung einer Sinngebung beharrlich widersetzen, daß sie aber doch die Lücke zu umschreiben versuchen, die entstanden ist<<. Diese Bücher schließen diese Lücke nicht, sie wollen das auch gar nicht tun; sie markieren vielmehr eine Wunde, die offen ist und offen bleibt. Hier schreiben ja Menschen ihre Erlebnisse nicht einfach auf. Hier schreiben Überlebende, um weiterleben zu können. Sie bekennen ihre Wahrheit, und die Art und Weise, wie sie das tun, ermöglicht uns eine Annäherung an das Verstehen.
Hier schreiben aber auch Menschen, die nicht nur als Opfer wahrgenommen werden möchten. Die vor und nach dem Holocaust gelebt haben, die davon erzählen wollen, und die viel zu erzählen haben. Von dem unendlich reichen Kosmos beispielsweise, der das jüdische Leben einmal war - und vor allem auch von der großartigen Leistung jüdischer Frauen und Männer in Geschichte und Gegenwart, einer Leistung, ohne die das Geistes- und Kulturleben, Wissenschaft und Wirtschaft in Europa gar nicht zu denken wären.
Auch diesen wichtigen Aspekt dürfen wir nicht vergessen. Denn wenn in unserem Erinnern nur der Eindruck zurückbliebe, daß jüdische Frauen und Männer in unserer Gesellschaft allein Opfer, allein Objekte der Geschichte gewesen seien, dann würden die Mörder noch einmal triumphieren, dann wären über die Vernichtung von Millionen von jüdischen Menschen hinaus auch ihre Lebensleistungen, die Lebensleistungen ihrer Väter und Vorväter, ihrer Mütter und Großmütter ausgelöscht. Dann wäre unser Erinnern einseitig, und dem Vergessen wäre ein Einfallstor geöffnet.
Vor diesem Vergessen hat Ruth Klüger in ihren Büchern, Aufsätzen und Essays immer wieder gewarnt; aber nicht minder vor dem, was vorgeblich das Gegenteil des Vergessens ist. Ruth Klüger wendet sich gegen ein Erinnern, das in einen gefälligen und gefühligen Betroffenheitskult mündet, gegen ein Gedenken, das zum leeren Ritual wird, vor den Augen, oder besser gesagt, für die Augen der Welt. Erinnern, so sagt Ruth Klüger, sei >>keine gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit, sondern eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung<<.
Mit dieser Zumutung, sage ich, müssen wir leben. Unsere Vergangenheit vergeht nicht, und wir können sie auch nicht abschließend >>bewältigen<<, selbst wenn das manche - in guter Absicht - denken und wollen. Was die Verfolgung und die Ermordung von Menschen aus sogenannten rassischen, religiösen oder politischen Gründen anbetrifft, gibt es für unsere Gegenwart keine Generalabsolution, und auch wir selber können nicht von vornherein für alle Zeit einen moralischen Bonus beanspruchen.
Was einmal geschehen ist, war auf seine Art einmalig. Aber Ähnliches kann wieder geschehen, auf andere Weise, in anderen Formen. Das hat die Geschichte der letzten fünfzig Jahre überdeutlich bewiesen. Deshalb müssen wir wach sein und bleiben, und dabei kann das Erinnern, das Gedenken helfen. Es kann Maßstab sein und Orientierung geben, wenn wir es uns nicht zu leicht machen, Wenn wir beispielsweise das beherzigen, was uns Ruth Klüger in ihren Büchern und Essays zu sagen hat und was sie uns vorlebt.
Wenn ich ihr Werk, das kein Werk der Distanzierung ist, sondern ein Werk der Versöhnung und Verständigung im Sinne und im Geiste Heinrich Heines; wenn ich Ruth Klügers Werk auf seinen humanen Kern bringen müßte, dann würde ich - verzeihen Sie mir diese Vereinfachung und diese Anmaßung - eine historische und moralische Grunderfahrung herausstellen. Es ist eine Erfahrung, in der ich - der Gleichaltrige mit einem ganz anderen Lebensweg - mich mit Ihnen, verehrte, liebe Frau Klüger, verbunden weiß.
Es ist die Erfahrung, daß es auf jeden einzelnen Menschen ankommt, immer und in jeder Situation, die Erfahrung, daß jedes Leben einzigartig ist, unersetzlich und unwiederbringlich. Man darf niemals einen Menschen einem Zweck opfern. Das hat sinngemäß Albert Schweitzer einmal gesagt. Denn wer einen Menschen tötet, der läßt eine Welt untergehen! Und es gibt keinen Preis, keine Weltanschauung, keine Ziele, die das rechtfertigen könnten.
Diese Erfahrung muß uns besonders wichtig sein - am Ende eines Jahrhunderts der Diktaturen und Ideologien, eines Zeitalters der Extreme und der extremen Mißachtung der Menschenrechte. Diese Erfahrung sollte es uns wert sein, daß wir unser Handeln danach ausrichten - in der Gegenwart und für die Zukunft. Dabei hilft uns das Beispiel Ruth Klüger, dabei hilft uns ihr hellsichtiges Werk. Es ist ein Zeugnis der Leuchtkraft humanen und aufgeklärten Denkens in einem Jahrhundert voller Verblendung und Inhumanität.
Wir sagen Ihnen für Ihr Werk, verehrte, liebe Frau Klüger, unseren aufrichtigen Dank.Wir sind froh, daß es Sie gibt, und wir freuen uns, daß wir Sie heute bei uns haben.
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